Cocooning 3.0 – Wenn das Innen zum neuen Außen wird

Im verstärkten Home Office verschwimmen Grenzen zwischen Privat und Öffentlich. Die gelernte Trennung von Wohnräumen löst sich. Was hat dies für Auswirkungen auf Räume und Möbelstücke und wie lange bleibt die Cocooning-Welle?

By Expertin Julia Riedmeier „Neo Luxury“

Cocooning
Quelle & Copyright by Walter Knoll (@walterknoll_official)

Autor: Julia Riedmeier

Die eigenen vier Wände sind seit jeher Refugium, Wohn- und Wirkplatz, Lebensraum. Spiegel unserer Persönlichkeit. Ob eingerichtet durch den Interior Designer, eklektizistisch mit Klassikern wie dem Vitra Eames Lounge Chair zusammen mit Objekten von der Cambodia Reise oder funktional minimal. Mit einer verstärkten Home (Office) Situation verschwimmen Grenzen zwischen Privat und Öffentlich, Beruf immer mehr. Auch die gelernte Trennung von Wohnräumen wie Küche, Arbeits-, Wohnzimmer löst sich verstärkt auf. Räume und Möbelstücke werden multifunktional. Ansprüche an diese steigen. Zudem stellt sich die Frage, ob die Cocooning-Welle bleibt. Das hängt einerseits vom Corona-Status und vom dominierenden Mindset ab.

Bedeutung von Zuhause, Wohnen, Design

Wir waren immer on the Go: ob für Business-Reisen oder privat. Das Apple Wallet füllte sich mit Boarding-Pässen, Hotelübernachtungen, Tickets. Frequent Traveller Status, Urlaubsreisen an instagrammable Orte oder Money-Can’t-Buy-Erlebnisse waren die neuen Statussymbole, welche scheinbar den klassischen Besitzluxus abgelöst haben. Doch dies war schlagartig passé, als in den letzten Monaten unsere Aufmerksamkeit nach innen kehrte. Auf uns selbst, auf die Orte, Räume, in denen wir leben, auf Objekte, mit denen wir unseren Lebensraum formen. Wie wir wohnen wurde somit wichtiger denn je: in Bezug auf Qualität, Designleistung, (Multi-)Funktionalität.

Dass sich Räume, gelernte Funktionen und Gestaltungen von Räumen wandeln, war bereits vor Corona bekannt, doch wurde dies exakt durch die aktuellen Entwicklungen verstärkt. Diese bringen daher Ansprüche und Chancen für die private und berufliche Gestaltung des Wohnraums und damit Potenzial für neue Produkte, Kommunikation, Kooperationen, Zielgruppen mit sich. Wer als Unternehmen darauf reagiert und nach vorne blickt, hat die Möglichkeit Mitgestalter der Branche zu sein. Wer die Augen verschließt, wird schwarzsehen.

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Gleichgewichte verschieben sich

Wenn das Außen nach innen kehrt, verschieben sich die Gleichgewichte in den Kerndimensionen Beruf, Freizeit, Reisen, Zuhause und damit unserer Ressourcenallokation – Zeit oder Geld – und Selbstdefinition – Haben oder Sein. So bedeutet weniger Zeit im Office ein Mehr an Home-Office und damit einer steigenden Relevanz für neue, lifestylige(re) Produkte. Gerade auch, wenn das klassische Arbeitszimmer nicht mehr gegeben ist und die Co-Working-Space-Mentalität Einzug in das Kitchen-Office hält. Darum fragt sich Markus Benz, Vorstandsvorsitzender von Walter Knoll, zurecht:

„Warum muss ein Bürostuhl wie ein Bürostuhl aussehen, um seine Funktion zu erfüllen? Es wäre doch ideal, wenn sich dieser auch als Esstischstuhl anbieten würde. Ästhetik und Funktionalität sollten so miteinander verbunden werden, dass sie solchen hybriden Anwendungen gerecht werden.“

Betrachten wir das Freizeitverhalten, so führ(t)en weniger Besuche im Fitnessstudio oder Spa zu einem Mehr an Home-Gym, Home-Spa. Während des Lockdowns wurden wir veranlasst umzudenken und zu reagieren. YouTube-Gurus wie Pamela Reif oder neue Devices wie das Peloton Bike boomten. Die Yogamatte war vorhanden, alles andere wurde nachgerüstet. Doch warum sich nun ins überfüllte Gym bewegen oder die Ruhezeit im Spa mit anderen Menschen teilen, wenn all das auch zuhause möglich ist und es sogar noch mehr convenient, hygienischer ist? Unternehmen haben bereits vor Corona Lösungen angeboten – wie das LifeSpa von Dornbracht – welche nun an Relevanz gewinnen können, denn Home-Lösungen werden zur conditio sine qua non für die Stadtwohnung.

Auch Socializing zuhause erfährt eine neue Dimension

Wenn Besuche im Restaurant nicht mehr das Must-Have Erlebnis sind, dann verstärkt sich der Trend des Home-Cookings. War es doch gefühlt eh immer zu voll, zu laut. Das Dinner in privater Runde erlebt daher eine neue Art der Trendiness und Qualität. Der Social Circle wird zum Inner Circle. Dabei wird die Küche und das Wohn-/Esszimmer wieder mehr zum Herz des Zuhauses. Doch auch hier wird mehr denn je erwartet, dass sich die Küche idealerweise als Möbelstück einfügt und kein Raum ist, in dem isoliert die Funktion des Essen-Zubereitens geschieht: im Vordergrund stehen Gemeinschaft, Leben im Offline-Modus – doch gerne mit ein paar digitalen Gadgets.

Dabei zeigt sich besonders bei den Millennials, dass viel Schönheit in old-school gedachten Ritualen steckt. Viel Achtsamkeit im sich Zeitnehmen für ein Dinner for one, two or more, wofür gerne der Saarinen-Tisch mit den schweren St-Louis-Kristallgläsern, dem handbemalten „Balcon Du Guadalquivir“-Porzellan von Hermès und dem handgefertigten Riva-Silberbesteck von Robbe & Berking eingedeckt wird. Wir schätzen wieder mehr die Qualität der Materialien, Haptik, Handwerkskunst.

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Quelle & Copyrigh by Robbe & Berking

Diese Momente des Innehaltens bringen uns (wieder) auf eine andere Bewusstseinsebene. Wir verspüren vermehrt das Bedürfnis, die Menschen hinter den Markennamen zu erkennen. Lehnen abstrakte Marken-Konstrukte ab, die keine Transparenz geben. Präferieren aber auch Marken, die uns verstehen und uns in unseren Bedürfnissen abholen.

Die NEO Luxus Trends

Werfen wir einen Blick auf die sieben NEO Luxus Trends, so können besonders drei Trends Basis für Produkt- und Servicelösungen sein. Es lässt sich feststellen, dass Trends, die vorher schon präsent waren, sich einerseits verstärken, sich andererseits in ihrer Definition verschieben, aber nicht an Relevanz verlieren.

1. Sharing und 2nd Life

Besonders Millennials sind Global Nomads und schon qua ihrer internationalen Ausbildung an flexible Lebensstile gewöhnt. Der Lockdown brachte das Gefühl des Ankommens hervor, hielt aber auch den Spiegel vor. Wie sehr wurde auf Erfahrungen außerhalb des Zuhauses gesetzt, wie sehr auf flexible Miet-Modelle anstatt auf Besitz und Anker? Doch für die Living-Branche könnten Mietmodelle durchaus spannend sein, wenn wir von zwei Strömungen ausgehen: erstens, dem Wunsch nach Abwechslung, da wir mehr Zeit zuhause verbringen.

Zweitens, wenn wir wieder mehr zu Nomaden werden und Wohnen auf Zeit wieder relevanter wird. Doch klar steht hier der Gegentrend der Ownership gegenüber. Der Wunsch nach authentischen Produkten mit Geschichte. In Bezug auf 2nd-Life kann von anderen Branchen gelernt werden. Was für die Uhrenbranche bereits funktioniert, könnte auch für die Living-Branche interessant sein: der Wunsch des Konsumenten nach Vintage-Produkten ist da, die Zertifizierung selten. Somit könnte Certified Pre-Owned (CPO) als Chance erkannt werden und das Potential nicht externen Plattformen überlassen, sondern von Unternehmen, Herstellern selbst genutzt werden.

2. Digitalisierung und Digital Detox

Digitalisierung und Endkundenzugang – besonders zu jüngeren Zielgruppen – werden eine fundamentale Rolle im Luxusmarkenmanagement spielen: online konfigurieren, inspirieren, informieren und mit der Marke in Kontakt treten ist wichtig. Westwing hat gezeigt, dass es möglich ist, Möbel online zu kaufen, ohne sie vorher gefühlt, geprüft zu haben. Die ganz essentielle Frage, branchenunabhängig, ist, wie das Shopping-Erlebnis kreiert wird. Wie werden die Produkte gezeigt – Zoom-In/Out-Funktion, Video, – die Farben und Materialien – emotional und detailliert – beschrieben, welche zusätzlichen Services werden angeboten? Gibt es die Möglichkeit einen Online-Termin mit dem Interior-Designer zu vereinbaren oder Masterclasses mit dem Creative Director zu buchen. Somit: Wie kann die Marke erlebbar gemacht werden, ohne den reinen Produktverkauf in den Fokus zu stellen? So holt die britische Tapeten- und Farben-Manufaktur Farrow & Ball den Interessierten bereits online im Sinne des Infotainments ab.

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Bildquelle Westwing/Instagram

3. Gesundheit & Achtsamkeit

Der Wunsch nach gesunden Lebensstilen, Nachhaltigkeit, eröffnet neue Geschäfts- & Produktchancen. Dabei sollten Produkte zur Lebensqualität beitragen, denn Gesundheit ist unser wichtigstes Gut. Wir konsumieren bewusster und hinterfragen auch den Materialursprung. Das Siegel „Made in Germany“ und die Transparenz der Manufakturen könnte hier eine wichtige Rolle spielen. Ebenso das Entwickeln neuer Oberflächenstrukturen, die neuen hygienischen Bedürfnissen nachkommen.

Zukunftsszenarien: Bleibt Cocooning?

Zuletzt stellt sich die Frage, ob die Cocooning-Welle bleibt. Das hängt einerseits vom Corona-Status ab – bedingt durch medizinische und wirtschaftliche Faktoren – und vom dominierenden Mindset – Fokus auf das Innen oder Außen. Aktuell befinden wir uns im Semi-Normal und in der Corona-Zeit. Das Zuhause hat an Bedeutung gewonnen, das Außen ist insofern wichtig und möglich, als dass wir wieder restriktiv reisen können, Restaurantbesuche wieder möglich sind.

Ob post Corona eine verstärkte Verlagerung ins Innen und dem Zuhause – Cocooning 4.0 – bedeutet, wird sich zeigen. Oder ob wir den Fokus wieder mehr ins Außen lagern und zu einem (never) back to normal kommen, da Aktivitäten wie Reisen einfach nicht mehr so möglich sind wie wir sie kennen. Es bleibt spannend, doch auch: the future looks bright. Denn wie so oft kommt es auf die Perspektive an und was man als Konsument und Unternehmen daraus macht.

Cocooning-Welle - Corona Status vs. Dominant Mindest

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Quelle: KEYLENS/INLUX

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New Luxury

Text: Julia Riedmeier

Julia Riedmeier ist Managing Partner einer inhabergeführten Strategieberatung mit Fokus auf Premium- und Luxusmarken. Als Millennial pflegt Julia einen kritischen Blick auf etablierte Geschäftsmodelle. In Kontakt mit Start-Ups in Frankreich, der Schweiz sowie Deutschland ist es ihr ein Anliegen, diesen Spirit in ihre Projekte einzubringen und neue Denkweisen anzuregen. Besonders im Bereich digitaler Strategien und Neo-Luxuskonzepten. Neben ihrer Beratungstätigkeit hält Julia einen Lehrauftrag an der International University of Monaco inne sowie die Leitung des Luxusmoduls an der Munich Business School. In ihrer Doktorarbeit widmet sie sich dem Thema des Luxusmarkenmanagements in Zeiten der Co-Kreation.

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