Kontroverse um neue EU-Standards für Nachhaltigkeitsberichterstattung

EU-Standards für Nachhaltigkeitsberichterstattung ersetzen obligatorische durch freiwillige Offenlegung - Fort- oder Rückschritt?

 

Nachhaltigkeitsberichterstattung EU

Autor: Haus von Eden

  • Die Europäische Kommission hat die Europäischen Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung aktualisiert
  • Unternehmen sollen selbst ermessen, welche nachhaltigen, ethischen und sozialen Verpflichtungen "wesentlich" und somit offenzulegen sind
  • Untergräbt der Erlass eine positive Entwicklung durch das Fehlen einer allgemeinen Regelung und gleicher Wettbewerbsbedingungen?

Die Europäische Kommission hat kürzlich die Anforderungen an die ESG-Berichterstattung von Unternehmen aktualisiert. Und löste damit eine hitzige Debatte aus. Können diskretionäre Angaben anstelle von verpflichtenden Angaben von Unternehmen wirklich den dringend notwendigen Fortschritt im Klimaschutz bewirken?

Europäische Kommission aktualisiert Normen für die Nachhaltigkeitsberichterstattung

Ende Juli veröffentliche das Exekutivorgan der Europäischen Union aktualisierte Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung (ESRS), also die Offenlegung von Umwelt-, Sozial- und Unternehmensführungsdaten (ESG) durch Unternehmen. Diese Berichtspflichten betreffen Unternehmen, die sich den Richtlinien der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) verschrieben haben und sollen stufenweise eingeführt werden. Laut Kommission handle es sich dabei um einen weiteren Schritt auf dem Weg zu einer nachhaltigen EU-Wirtschaft.

Die Standards decken das gesamte Spektrum an Umwelt-, Sozial- und Governance-Themen ab. Einschließlich Klimawandel, biologische Vielfalt und Menschenrechte. Dadurch liefern sie Informationen für Investor:innen, sodass diese die Nachhaltigkeitsauswirkungen von Unternehmen, in die sie investieren, verstehen können. Parallel dazu berücksichtigen sie auch Diskussionen mit dem International Sustainability Standards Board (ISSB) und der Global Reporting Initiative (GRI), um ein hohes Maß an Interoperabilität zwischen den EU-Standards, sowie den globalen Standards zu gewährleisten. Obsolete Doppelberichterstattung soll auf diese Weise vermieden werden.

Offiziell gelten die aktualisierten Anforderungen nicht nur als ehrgeiziges, sondern auch wichtiges Instrument zur Unterstützung der EU-Agenda für nachhaltige Finanzen. "Sie schaffen das richtige Gleichgewicht zwischen der Begrenzung der Belastung für die berichterstattenden Unternehmen und der gleichzeitigen Möglichkeit für die Unternehmen, ihre Anstrengungen zur Erfüllung der Green-Deal-Agenda nachzuweisen und somit Zugang zu nachhaltigen Finanzmitteln zu erhalten", kommentierte Mairead McGuinness, Kommissarin für Finanzdienstleistungen, Finanzstabilität und Kapitalmarktunion

Das sind die wesentlichen Änderungen der ESRS

Trotz Zuversicht der Europäischen Kommission wurde die Veröffentlichung nicht ausschließlich als ambitioniert oder zielführend wahrgenommen. Der Rechtsakt enthält nämlich Änderungen, die die Standards maßgeblich von einigen Punkten des Entwurfs der EFRAG, der im November 2022 vorgelegt wurde, unterscheiden. Die wesentlichen Änderungen betreffen:

  1. Unternehmen können eine größere Anzahl von Berichtspflichten unter den Vorbehalt der Wesentlichkeit stellen. Das heißt, dass die EU es Unternehmen erlaubt, Informationen wegzulassen, wenn sie unter ihren besonderen Umständen nicht relevant sind. Allerdings mit einer Ausnahme: ESRS 2, wobei es sich um Berichtsanforderungen zur Umweltverschmutzung, insbesondere zur Verschmutzung von Luft, Wasser und Boden sowie besorgniserregenden Stoffen, handelt.
  2. Hinzufügung einer neuen Anforderung für den Fall, dass ein Datenpunkt der Richtlinien als nicht wesentlich gewertet wird. Passiert dies, so müssen Unternehmen diesen ausdrücklich als "nicht wesentlich" kennzeichnen. Alle aus den EU-Rechtsvorschriften abgeleiteten Datenpunkte müssen in einer Tabelle offengelegt werden.
  3. Aktualisierung der Terminologie im Zusammenhang mit finanzieller Wesentlichkeit. Das Ziel: Bessere Anpassung an die Definition in den ISSB Sustainability Disclosure Standards.
  4. Änderung der Offenlegungsanforderungen und Datenpunkte in Bezug auf bestimmte Themen von obligatorisch zu freiwillig
  5. Einführung zusätzlicher Übergangsbestimmungen für einige der Berichtspflichten (einschließlich zur biologischen Vielfalt). Diese gelten hauptsächlich für Unternehmen mit weniger als 750 Mitarbeitern.

Selektive Offenlegung gefährdet universelle Regulierung und Wettbewerbsbedingungen

Viele Seiten kritisieren die Änderungen, insbesondere Punkt 1 und 4, als Rückschritt bei den Berichtsanforderungen. Die Richtlinie verwässert die Anforderungen einer obligatorischen und somit universellen Offenlegung. Gleichzeitig ersetzt sie diese durch eine diskretionäre Offenlegung unter der Definition von Wesentlichkeit. Die Europäische Kommission setzt dieser Einschätzung entgegen, dass die Änderung den berichtenden Unternehmen zu mehr Flexibilität und Kosteneinsparungen verhelfen kann. Doch was bedeuten die neuen Standards letztlich für Marken in der freien Wirtschaft - fernab von theoretischen Diskussionen im staatlichen Rahmen?

Es ist de facto so, dass der neue Entwurf die zuvor angenommene Richtlinien deutlich abschwächt. Unmissverständlich bedeutet dieser nämlich: Es liegt im Ermessen der jeweiligen Unternehmen, worüber sie berichten sollten. Die Verlagerung zu selektiven, freiwilligen Offenlegungen untergräbt die Hoffnung auf eine universelle Regulierung sowie eine Angleichung der Wettbewerbsbedingungen zwischen nachhaltigen und nicht nachhaltigen Unternehmen. Eher besteht die Wahrscheinlichkeit fort, dass Organisationen nach wie vor dazu bereit sind, Regeln zu umgehen und gegebenenfalls Strafen zu zahlen.

Update zur Nachhaltigkeitsberichterstattung könnte zu Greenwashing verleiten

In diesem Szenario beschließen Marken schließlich selbst, ob humanitäre Schlüsselbereiche wie Tarifverhandlungen, biologische Vielfalt, oder beobachtbare Fortschritte in der Lieferkette "wesentlich" sind. Aber auch, was vermeintlich "unwesentlich" ist. Nicht überraschend wäre es also, dass Marken der Versuchung unterliegen, Geschäftsaktivitäten offenzulegen, in denen sie die relevantesten Fortschritte machen, während sie ihre Baustellen verschweigen. Das heißt, dass sie individuell darüber richten, wie ihre Außenwirkung sein soll. Und nur aufgrund gekonnter Kommunikation sowie strategischer Abwägung dessen, welche positiven Auswirkungen kommuniziert und welche negativen Auswirkungen verschwiegen werden, ein gewisses Image konstruieren. Stichwort Greenwashing.

Ohne kollektive Maßnahmen mangelt es also an systemischer Rechenschaftspflicht und an Vergleichbarkeit. Durch das individuelle Ermessen jedes Players können weder offizielle Instanzen, noch Investor:innen oder Konsument:innen die nachhaltigen, ethischen oder sozialen Verpflichtungen von Marken direkt miteinander vergleichen. Und sie voneinander differenzieren, um informierte Entscheidungen zu treffen.

Daraus ergibt sich ein Dilemma: Sollen Marken sich auf die Bereiche, die für sie am wichtigsten sowie öffentlichkeitswirksamsten sind, konzentrieren oder auf ganzheitliche Transparenz setzen? Immerhin deuten kritische Stimmen sowie langfristige Pläne daraufhin, dass sich die Anforderungen stets in Richtung Obligation und Standardisierung verschärfen werden.

EU-Kommission positioniert freies Ermessen als Anreiz für mehr Transparenz

Diesen Sorgen lassen sich jedoch auch Argumente für die Änderung entgegenbringen. Einerseits thematisieren Branchenexpert:innen zurecht den Umstand, dass viele Marken der universellen Offenlegung im gegebenen Zeitraum nicht gerecht werden können. Die Diskrepanz zwischen derzeitiger Transparenz und obligatorischer Offenlegung in allen Bereichen der Geschäftsaktivitäten könnte eine beachtliche Zahl an Marken schwächen und ihre Wettbewerbsfähigkeit untermauern. Die abgeschwächte Version des Rechtsaktes kann also dazu beitragen, mehr Unternehmen zu motivieren sowie zu mobilisieren und den Verwaltungsaufwand in nicht anwendbaren Bereichen zu reduzieren.

Andererseits rechtfertigt die Europäische Kommission ihre Änderungen, indem sie sich auf das International Sustainability Standards Board beruft. Dieses hat vor Kurzem globale Normen auf der Grundlage der Wesentlichkeit verabschiedet: Die Übereinstimmung mit dem ISSB soll es Unternehmen erleichtern, sich an standardisierte Richtlinien zu halten sowie Doppelberichterstattungen zu vermeiden.

Können vorsichtige Richtlinien dem dringenden Handlungsbedarf gerecht werden?

Durch die Veröffentlichung der finalen Standards am 31. Juli 2023 befindet sich das Gesetzgebungsverfahren zu den ESRS jetzt in der letzten Phase. Der delegierte Rechtsakt zu den ESRS wird in der zweiten Augusthälfte sowohl an das Europäische Parlament als auch an den Rat zur Prüfung übermittelt. Im Zuge der Prüfung, die eine Frist von zwei bis maximal vier Monate beträgt, kann der Rechtsakt abgelehnt, jedoch nicht verändert werden.

In Anbetracht der Abwägung der Pro- und Contra-Argumente für die Änderungen des Entwurfs, wirkt der Ansatz der Kommission zu vorsichtig. Der dringende Handlungsbedarf im Klimaschutz bedarf einer Beschleunigung nachhaltiger und ethischer Verpflichtungen - keiner Stagnation oder gar Verlangsamung. In Anbetracht der Zurückhaltung vieler Unternehmen in diesen Bereichen scheint es, als würden die aktualisierten Standards ihnen zu viel Freiheit einräumen. Eine Freiheit, die ihnen erlaubt mitzuteilen, was vorteilhaft ist und deshalb irreführend wirken kann. Demgegenüber könnte sich eine Standardisierung positiv auswirken. Und zwar nicht nur, um die nachhaltige Entwicklung, sondern auch eine menschenwürdige Industrie sowie faire Wettbewerbsbedingungen zu fördern.


Hintergrund

Die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) trat am 5. Januar 2023 in Kraft. Sie schafft detaillierte Anforderungen an die Nachhaltigkeitsberichterstattung und erweitert die Anzahl der EU- und Nicht-EU-Unternehmen, die dem EU-Rahmen für die Nachhaltigkeitsberichterstattung unterliegen. Dabei bilden die European Sustainability Reporting Standards (ESRS) die Grundlage für die Umsetzung der in der CSRD beschriebenen Nachhaltigkeitsangaben. Die Anforderung an Unternehmen, anhand der ESRS zu berichten, wird schrittweise eingeführt. Die ersten Berichte bestimmter Unternehmen werden im Jahr 2025 fällig.

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