Praktischer Wegweiser oder Irreführung? Zertifizierungen sollen Verbraucher:innen helfen, sich im Dschungel der Nachhaltigkeitsversprechen zurechtzufinden. Doch halten die Green Labels wirklich das, was sie versprechen, oder schaden sie vielleicht sogar mehr als sie nützen?
Autor: Haus von Eden
Die Modeindustrie hat enorme Auswirkungen auf die Gesundheit unseres Planeten. Von der Rohstoffgewinnung über die Produktion bis hin zum Verkauf und der Entsorgung hinterlässt sie überall auf der Welt einen tiefen ökologischen Fußabdruck. Aufgrund des immer stärker werdenden Umweltbewusstseins der Verbraucher:innen nutzen mittlerweile die meisten Unternehmen Nachhaltigkeits-Zertifizierungen, um sich am Markt als ökologisch verantwortungsbewusst zu positionieren. Doch wie verlässlich sind diese Gütesiegel wirklich? Das wollen wir in diesem Beitrag beleuchten sowie die Vor- und Nachteile von Zertifizierungssystemen genauer unter die Lupe nehmen.
Der Siegeszug der Sustainability-Siegel
Wie wichtig der Klimaschutz ist, kommt immer mehr in der Mitte der Gesellschaft an. So suchen Konsument:innen laut der „Voice of the Consumer Survey 2024“ von PwC zunehmend nach nachhaltigen Produkten, die negative Auswirkungen auf Mensch und Umwelt minimieren. 46 % der Befragten gaben an, dass sie mehr nachhaltige Produkte kaufen, um ihren ökologischen Fußabdruck zu verringern. Über 80 % der Verbraucher:innen sagten zudem, dass sie bereit sind, mehr für nachhaltig produzierte Waren zu zahlen. Im Durchschnitt waren die Befragten dazu bereit, 9,7 % extra für Produkte auszugeben, die bestimmte Umweltkriterien erfüllen und zum Beispiel aus recycelten Materialien bestehen, lokal produziert wurden oder entlang der Lieferkette geringere CO2-Emissionen aufweisen.
Laut einer Nielsen-Studie aus dem Jahr 2015 recherchieren Verbraucher:innen zudem vor jedem Kauf gründlich. Sie überprüfen Etiketten oder suchen online nach Informationen zu Geschäfts- und Herstellungspraktiken. Dadurch sind Unternehmen zunehmend daran interessiert, ihre Referenzen zu zeigen, indem sie ihre Produkte von unabhängigen Instituten als nachhaltig zertifizieren lassen. Die Anzahl der verschiedenen Programme und freiwilligen Initiativen ist in den letzten Jahren stark gewachsen. Der Ecolabel Index, das größte globale Verzeichnis von Ökolabels, listet derzeit weltweit 456 Siegel in 25 verschiedenen Bereichen. Die meisten davon sind in den letzten zwei Jahrzehnten entstanden. Aber wie gut sind sie wirklich und ist diese „Flut“ der Zertifizierungen ein Beschleuniger für positive Veränderungen oder kann sie auch wirklich nachhaltigen Konsum im Wege stehen?
Vorteile von Zertifizierungen:
Zertifizierungen sollen Konsument:innen Klarheit und Orientierung in Labyrinth der scheinbar nachhaltig hergestellten Produkte bieten. Außerhalb staatlicher Regulierung gibt es daher ein ganzes Universum privater, freiwilliger Programme und Initiativen, um umweltbewusste Kaufentscheidungen zu erleichtern. Diese Zertifizierungssysteme sind darauf ausgelegt, die Umwelt- und Sozialpraktiken von Unternehmen zu überwachen und nachhaltiges Handeln zu bescheinigen. Sie sollen dadurch eine einfache Möglichkeit bieten, verantwortungsvoll hergestellte Produkte unkompliziert zu identifizieren. Diese positiven Effekte können Zertifizierungen haben:
- Sie können die Umweltbelastungen verringern sowie die Bedingungen von Arbeiter:innen verbessern, indem sie die Einhaltung bestimmter Umwelt- und Sozialstandards garantieren.
- Indem sie vorschreiben, Lieferketten und Produktionsmethoden offenzulegen, können sie Unternehmen zur Rechenschaft über ihre Handlungen verpflichten.
- Sie können den Kauf von nachhaltigen Produkten fördern, indem sie es Verbraucher:innen erleichtern, informierte Kaufentscheidungen zu treffen, und den USP dieser Waren klar herausstellen.
Warum stehen Zertifizierungen aktuell in der Kritik?
Lange galten Zertifizierungen als der Goldstandard zur Kategorisierung nachhaltiger Unternehmen. Doch eine Recherche der britischen NGO Earthside hat aktuell eine hitzige Diskussion um die Vor- und Nachteile der Green Labels ausgelöst. Die NGO erhob im Frühjahr 2024 schwere Vorwürfe gegen das Ökolabel Better Cotton, das unter anderem von H&M und Zara genutzt wird. Die Better Cotton Initiative, einer der größten Zertifizierer für nachhaltige Baumwollprodukte, soll nach Recherchen der NGO Baumwolle aus illegal abgeholzten Gebieten in Brasilien zertifiziert haben. Dabei geht es laut Earthside um über 800 Tonnen Baumwolle von zwei großen brasilianischen Produzenten, denen Korruption, Landraub und illegale Abholzungen vorgeworfen wird. Diese sollen an asiatische Textilhersteller geliefert wurden sein, die für die beiden größten Modehändler der Welt, H&M und Zara, produzieren.
Nachteile von Zertifizierungen:
Nicht nur aufgrund der aktuellen Vorfälle sehen viele Expert:innen und NGOs Zertifizierungen kritisch. Sie bezweifeln, dass es möglich ist, alleine durch Green Labels echte Veränderungen im Konsumverhalten und in der nachhaltigen Produktion herbeizuführen, da die meisten Nachhaltigkeitssiegel nicht staatlich kontrolliert werden und viele Schlupflöcher für die Unternehmen bieten. So sehen Kritiker:innen die immer zahlreicher werdenden Umweltzeichen eher als Illusion des Fortschritts als einen Mechanismus, um diesen wirklich voranzutreiben. Dafür sprechen folgende Argumente:
- Zertifizierungen konzentrieren sich oft auf spezifische Aspekte des Herstellungsprozesses oder bestimmte Teile der Lieferkette und haben nicht den gesamten Produktionsprozess im Blick. Teils können sich die Unternehmen spezielle Aspekte, bei denen sie besonders gut abschneiden, als Bewertungsgrundlage herauspicken.
- Die Einhaltung der Standards wird nicht immer effektiv überwacht oder durchgesetzt. Bei Nichteinhaltung drohen den Unternehmen meist keine finanziellen Konsequenzen.
- Viele Zertifizierungssysteme sind intransparent in Bezug auf ihre Methoden, Kriterien und Finanzierung.
- Es können Interessenkonflikte auftreten, da Unternehmen oft selbst an der Entwicklung und Finanzierung der Initiativen beteiligt sind.
- Einige Zertifizierungen stehen in der Kritik, zu schwache Standards zu haben oder Greenwashing zu betreiben. Dies kann zu einem generellen Vertrauensverlust in die Glaubwürdigkeit von Zertifizierungen führen.
- Green Labels sind kein Mittel gegen den Überkonsum. Sie täuschen die Verbraucher:innen vielmehr über den Fakt hinweg, dass jede Art des Konsums, auch der als nachhaltig zertifizierter Produkte, zum Ressourcenverbrauch beiträgt.
Bekannte Green Labels im Nachhaltigkeits-Check
Halten die großen Sustainability-Siegel wirklich das, was sie versprechen? Die Changing Markets Foundation hat in ihrem Report „The false promise of certification” einige der bekanntesten Zertifizierungen für nachhaltige Textilen genauer unter die Lupe genommen und bewertet. Für drei der prominentesten Initiativen haben wir die Ergebnisse im Folgenden zusammengefasst:
- OEKO-TEX
OEKO-TEX ist ein Zusammenschluss unabhängiger Prüfinstitute und bietet mehrere Zertifizierungen mit hohen Standards an. Diese können allerdings teils für Verbraucher:innen verwirrend sein. So garantiert der OEKO-TEX Standard 100 lediglich, dass in den fertigen Produkten keine schädlichen Chemikalien verbleiben, und nicht, dass Produkte mit dem Label nachhaltig hergestellt wurden. Auch sagt der OEKO-TEX Standard 100, anders als es der Name vermuten lassen könnte, nichts über den Einsatz von GVO, Pestiziden oder Bio-Baumwolle aus. Das STeP- und MADE IN GREEN-Zertifizierungssystem könnte Konsument:innen ebenfalls leicht den irreführenden Eindruck vermitteln, dass ein zertifiziertes Unternehmen insgesamt nachhaltig ist. Allerdings ist es möglich, dass Textilhersteller nur eine Stufe des Prozesses oder eine Fabrik zertifizieren lassen, während andere Unternehmensbereiche keine ökologischen Standards einhalten.
- Better Cotton Initiative (BCI)
Die bereits oben erwähnte BCI-Zertifizierung soll den Baumwollanbau umweltfreundlicher machen – überwacht dabei allerdings nur die Produktion und nicht die Weiterverarbeitung. Dafür setzt die Initiative auf Schulungen und Unterstützung der Farmer. Allerdings sind die Standards niedrig: Der Einsatz von Pestiziden, Düngemitteln und gentechnisch veränderter Baumwolle ist erlaubt und auch ein Mindestlohn für die Arbeiter:innen wird nicht vorgeschrieben.
- Global Organic Textile Standard (GOTS)
Im Gegensatz zur BCI verbietet GOTS gentechnisch veränderte Baumwolle und legt strenge Regeln für Chemikalien, Wasser- und Energieverbrauch fest. Die Kriterien gelten für die gesamte Lieferkette und werden durch unangemeldete Kontrollen überwacht. Allerdings sind die sozialen Anforderungen für die Rohstoffproduktion schwach. Der zentrale Kritikpunkt dabei ist, dass GOTS nur den gesetzlichen Mindestlohn voraussetzt, andere NGOs aber einen Existenzlohn fordern, der die tatsächlichen Lebenshaltungskosten deckt.
Was sollte an Zertifizierungen verbessert werden?
Um Greenwashing zu verhindern und echte Fortschritte zu erzielen, scheint eine Reform der derzeitigen Zertifizierungssysteme dringend nötig. Die reine Menge an Initiativen macht es den Unternehmen möglich, je nach Wunsch auszuwählen, welche Standards sie einhalten möchten oder nicht – sogar innerhalb desselben Programms. Um wieder mit Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit zu agieren, brauchen Zertifizierungen eine belastbare Basis. Folgende Prinzipien sollten daher für alle Green Labels gelten:
- Transparenz: Zertifizierungsprogramme sollten komplett transparent agieren und die genauen Auszeichnungskriterien öffentlich zugänglich sein. Jede Initiative sollte klar darlegen müssen, was sie zertifiziert und was nicht. Außerdem sollte deutlich gemacht werden, was ein bestimmtes Unternehmen noch verbessern kann und welche Kriterien es nicht erfüllt. Bei Fällen, in denen ein Unternehmen seine Zertifizierung verliert, sollte eine Pflicht zur Bekanntmachung bestehen. Zudem muss es eine Möglichkeit geben, öffentlich Beschwerden einzureichen.
- Unabhängigkeit: Viele der aktuellen Zertifizierungsinitiaven haben einen inhärenten Interessenkonflikt: Höhere Mitgliedszahlen führten zu höheren Einnahmen. Daher werden die Prüfungen zur Aufnahme eines neuen Members teils nicht so streng durchgeführt, wie sie eigentlich sollten. Die Einnahmen, die notwendig sind, um die Initiative zu betreiben, sollten daher im Idealfall nicht mehr von den zu bewertenden Unternehmen selbst stammen.
- Holistischer Ansatz: Zertifizierungen sollten den gesamten Produktzyklus abdecken. Viele der bestehenden Programme erbringen nur einen Nachhaltigkeitsnachweis für einen kleinen Teil der Lieferkette oder die Qualität des Endprodukts. Solche Initiativen müssen klar kommunizieren, was sie zertifizieren und was nicht, und deutlich machen, dass gute Leistungen in einem Stadium der Lieferkette nicht bedeuten, dass das gesamte Unternehmen oder Produkt sustainable ist.
Kleine Initiativen können Großes leisten
Die Arbeit der großen Zertifizierungs-Programme wird oft durch das begrenzt, was die Unternehmen als ihre Mitglieder und Kunden, bereit sind, zu leisten oder zu zahlen. Abhilfe könnten kleinere Organisationen sowie lokale Grassroots-Initiativen schaffen. So gibt es zum Beispiel mit FARFARM in Brasilien, dem Oshadi Collective in Indien, den Cotton Diaries oder genossenschaftlichen Modellen wie den Participatory Guarantee Systems (PGS) zahlreiche alternative Systeme, auf die Unternehmen zur Zertifizierung zurückgreifen könnten. Diese Programme binden die lokale Bevölkerung aktiv ein, berücksichtigen die spezifischen Herausforderungen vor Ort, können schnell auf Probleme reagieren und konstruktive Lösungen erarbeiten. Leider bekommen diese Bewegungen durch die übermächtige Präsenz der größeren Plattformen bisher kaum Sichtbarkeit.
Fazit: Zertifizierungen als zweischneidiges Schwert
Zertifizierungen können zwar einen Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit in der Modeindustrie leisten, sie sind jedoch kein Allheilmittel. Um echte Veränderungen herbeizuführen, müssen nicht nur Unternehmen und Konsument:innen umdenken, sondern auch die politischen Stakeholder ihren Einfluss weiter ausbauen. Anstelle der von der Industrie finanzierten Zertifizierungsinitiativen braucht es gesetzliche Vorschriften, deren Nichteinhaltung entsprechend bestraft werden kann.
Unternehmen müssen zudem ihre Sorgfaltspflichten ernst nehmen, Transparenz über ihre Lieferketten schaffen und Verstöße gegen Umwelt- und Sozialstandards konsequent sanktionieren. Letztendlich liegt es aber auch an uns als Verbraucher:innen, Herkunft und Herstellung der Produkte kritisch zu hinterfragen und unseren Konsum zu überdenken. Dabei ist weniger oft mehr. Reparieren, Tauschen und der Kauf von Secondhand-Kleidung kann nachhaltiger sein als der Griff zu zertifizierten Produkten. Zertifizierungen sind zwar ein Instrument, um den nachhaltigen Wandel voranzutreiben, aber es braucht Reformen der bestehenden Strukturen, um ihre Glaubwürdigkeit weiterhin zu gewährleisten.
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