Inflation: Belastungsprobe oder Chance für nachhaltigen Konsum?

Führt die Inflation zu einem Rückgang der nachhaltigen Entwicklung? Moderne Wertvorstellungen und Geschäftsmodelle sprechen dagegen

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Autor: Julia

Dass Krisen einen Einfluss auf das Konsumverhalten von Menschen haben, ist klar. Sie führen zu Unsicherheiten - sozial, emotional und finanziell. Insbesondere, wenn eine Krise die nächste jagt. Erst Corona, jetzt die Energiekrise, der erschütternde Krieg in der Ukraine und die resultierende Inflation. Sogar eine drohende Rezession.

Parallel zu all diesen Herausforderungen erstreckte sich ohnehin schon ein Wandel, der das Konsumverhalten beeinflusste: Nachhaltigkeit ist zu einem entscheidenden Kaufkriterium avanciert, hat sich von einem Nischenphänomen zum Wettbewerbsvorteil im Mainstream entwickelt. Allerdings sind nachhaltige Produkte einfach teurer. Bessere Materialien, umweltfreundliche Produktion und Fairness entlang der Wertschöpfungskette haben ihren Preis.

Und genau dieser Umstand bringt uns in Anbetracht der aktuellen Krise dazu zu fragen: Welche Rolle kann Nachhaltigkeit in einer Konsumwelt, die von Inflation geprägt ist, spielen? Immerhin steigen die Preise kontinuierlich, während finanzielle Möglichkeiten und Verbrauchervertrauen abnehmen. Zukunftsthema Nachhaltigkeit und die aktuelle Lage scheinen gegenteilig. Doch bedeutet das auch, dass sie sich ausschließen?

Lösen Existenzängste den Wunsch nach einem nachhaltigen Lifestyle ab?

Der Monatsbericht der Bundesbank für Oktober bestätigt Ängste: Die anhaltend hohe Inflation und Unsicherheiten über die Energieversorgung sowie ihre Kosten würden die Wirtschaft deutlich belasten, Deutschland befände sich am Rande einer Rezession. Genauer sei das deutsche Bruttoinlandsprodukt seit dem Sommerquartal nicht mehr gewachsen und stagniere stattdessen. Die logische Konsequenz: Es wird erwartet, dass die Wirtschaftsleistung im gerade begonnen Winterhalbjahr sinken wird. Das würde eine Rezession bedeuten - diese liegt nämlich vor, wenn das BIP mindestens zwei Quartale in Folge schrumpft.

Inflation

Laut des Berichts werde die Inflationsrate auch in den kommenden Monaten zweistellig bleiben. Nicht sicher, aber zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit. Und zwar trotz neuer Entlastungen. Um diese Prognose einzuordnen, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit: Mit 10% im September 2022 liegt die Inflationsrate heute so hoch wie zuletzt 1951. Angetrieben von den steigenden Preisen für Energie und Lebensmittel, seien die schlechte Konsumlaune sowie die gesunkene Kaufkraft Motor dieser Entwicklung.

Der Effekt: Expert:innen sprechen immer häufiger darüber, wann und nicht ob der Abschwung der Wirtschaft einsetzt. Die letzte Rezession fand im Zeitraum von 2007 bis 2009 statt und manifestierte die Auswirkungen der globalen Finanz- und Weltwirtschaftskrise. Zu dieser Zeit befand sich die Nachhaltigkeitsrevolution noch in ihren Anfängen und hatte deshalb nicht genug Schlagkraft, um derartige Herausforderungen zu überstehen. So wurde der Diskurs über Nachhaltigkeit und Verantwortung von Gesprächen über Existenzsicherung abgelöst. Überleben statt grünem Aufschwung und Investitionen in nachhaltige Initiativen oder Produkte.

Nachhaltigkeit im aktuellen Kontext der Wirtschaft

Welche Strukturen müssen also bestehen oder noch entstehen, damit Menschen trotz Preissteigerungen nachhaltig konsumieren können? Im Panel-Talk der Vogue Next ging Aktivistin Arizona Muse auf diese Frage ein. Für sie erfolgt gesellschaftliche Verantwortung aus finanziellem Wohlstand: Da finanziell Bessergestellte in der Lage sind Premiumpreise für nachhaltige Produkte zu zahlen, läge es in ihrer Verantwortung mit ihrer Nachfrage Druck auf den Markt auszuüben.

Daneben weist der aktuelle Kontext, in dem die Wirtschaft agiert, darauf hin, dass sich ein Rückschritt der nachhaltigen Entwicklung trotz Rezession nicht zwingend wiederholen muss. Mittlerweile sind die Auswirkungen des Klimawandels weltweit sichtbar. Daraus entsteht dringender Handlungsbedarf, sodass nachhaltige Entwicklung zum Zentrum der öffentlichen Diskussion in Wirtschaft und Politik geworden ist. Außerdem schärfen Krisen nicht nur Unsicherheiten, sondern auch das Bewusstsein. Immer mehr Verbraucher:innen verlangen Nachhaltigkeit in diversen Branchen. Um genau zu sein 80%, so Bain & Company.

Ergo: Die Nachfrage für nachhaltige Produkte und Services steigt, Aufsichtsbehörden fördern diese Entwicklung durch Restriktionen und Unternehmen müssen sich auf den Wandel einstellen, um resilient zu bleiben. Es scheint also, als hätte Nachhaltigkeit inzwischen einen so relevanten Stellenwert eingenommen, dass selbst eine Inflation oder Rezession keine disruptive Rückentwicklung mehr veranlassen könnte.

Eine Studie beweist: Das Konsumverhalten ändert sich - bleibt aber nachhaltig

Laut des aktuellen GfK Nachhaltigkeitsindex bleibt Nachhaltigkeit den Deutschen trotz des aktuellen Weltgeschehens wichtig. Seit April ist er nur minimal gesunken, was zeigt: Das nachhaltige Konsumverhalten bleibt relativ stabil. So auch die Bereitschaft, mehr Geld für nachhaltige Produkte zu zahlen (68% Zustimmung). Trotzdem ist klar, dass immer mehr Menschen mit kleiner werdendem finanziellen Spielraum konfrontiert sind. Insbesondere im Hinblick auf verschiedene Bevölkerungsgruppen sind einige mehr und andere weniger krisenresistent.

Das hat allerdings keinen Einfluss auf den Wunsch nachhaltig zu konsumieren: Verbraucher:innen ändern ihr Kaufverhalten, steigen von Reformhäusern und Biosupermärkten auf Discounter um, um weiterhin umweltfreundlich zu konsumieren. Bio hätte deshalb sogar an Marktanteilen gewonnen, so GfK. Dieses neue Mindset manifestiert sich auch in der Planung zukünftiger Anschaffungen.

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Im April planten 24% der Befragten ihre Anschaffungen der nächsten 12 Monate unter Nachhaltigkeitsaspekten. Aktuell ist dieser Wert auf 27% gestiegen. Ein Grund dafür könnte die Energiekrise sein. Immerhin versprechen energieeffiziente Geräte Einsparungen von Strom, während nachhaltige Lösungen wie Solarenergie Energiekosten reduzieren. Und dabei ganz nebenbei den Umweltschutz fördern.

Hier kann die Krise also Impulse für nachhaltige Entwicklung geben. Schon die Pandemie hat bewiesen, dass uns ungewollte Veränderungen wertvolle Lektionen für den Klimawandel lehren können: Zum Beispiel haben wir gelernt anders zu arbeiten, dadurch weniger zu fliegen und so drastisch CO2-Emissionen zu minimieren.

Das Potenzial der Inflation: Motor fairer Preisentwicklungen

Allerdings liefert das GfK Erkenntnisse zu alltagsrelevanten, wenn nicht überlebenswichtigen Produkten. Für Luxusprodukte, zum Beispiel Mode oder Kosmetik, könnte sich daher ein anderer Trend einstellen. Laut dem Marktforschungsinstitut Kantar würden die steigenden Lebenshaltungskosten immer mehr Verbraucher:innen dazu veranlassen, ihre Kaufgewohnheiten bei Kosmetik zu verändern. Konventionelle Billigware statt nachhaltigem Branding. Und das, obwohl Beauty als relativ rezessionssichere Branche gilt.

Wie reagieren Marken, die nachhaltig und somit im mittleren oder höheren Preissegment agieren, also darauf? Auch sie zahlen Mehrpreise für Produzenten oder Lieferanten, die verantwortungsvoll handeln. Sich einfach von ihnen abzuwenden, ist aber keine Option. Nachhaltigkeitsverpflichtungen sind heute so öffentlichkeitswirksam, dass eine Abwendung von ihnen mit negativen Konsequenzen verbunden ist. Es drohen Backlash, Shitstorm und Imageschäden - insbesondere in Zeiten von Social Media.

Bedeutet: Marken profitieren weder von einer dramatischen Preissenkung, noch von einer Distanzierung von ihrer nachhaltigen Agenda. Es gilt eine Balance zwischen zugänglichem Preispunkt und nachhaltigen Commitments zu finden; Kompromisse zu ihrer Umsetzung transparent zu kommunizieren. Dafür können Marken zunächst identifizieren, in welchen Bereichen sich Nachhaltigkeit besonders lohnt. So werden Konsument:innen dabei unterstützt, ihre knappen Budgets möglichst effektiv einzusetzen.

Außerdem produktiv: Preiskonzepte anpassen. Zum Beispiel könnte ein Umstieg auf regionale Produktion oder effizientere Flotten die Kostenstruktur verbessern. Wem das gelingt, kann sich in Zukunft als resilient sowie wettbewerbsfähig positionieren. Und dazu beitragen, dass nachhaltige Produkte zugänglicher und somit demokratisiert werden.

Warum Zirkularität in Zeiten der Krise wichtiger wird - Nachfrage und Resilienz

Noch ein positiver Nebeneffekt: Die Inflation intensiviert den Boom des ohnehin wachsenden Resale- und Rental-Marktes. Angetrieben von der Pandemie soll sich der Wert des Marktes für Secondhand-Mode in den nächsten 10 Jahren mehr als verdreifachen - von 28 Milliarden USD in 2019 auf 80 Milliarden USD in 2029, so ThredUp. Der Grund: Wie im Falle des Konsums von Bio-Lebensmitteln, wollen Verbraucher:innen ihren nachhaltigen Lifestyle trotz finanziellen Unsicherheiten nicht opfern. Und suchen sich deshalb Alternativen, die ihre finanziellen Möglichkeiten, Nachhaltigkeit und - im Falle von Fashion - auch den Wunsch, stets en vogue zu sein, vereinen.

Kreislauffähige Geschäftsmodelle wie Resale und Rental haben insbesondere durch dedicated Plattformen wie Vestiaire Collective oder Rebelle Einzug in den öffentlichkeitswirksamen Bereich der Modeindustrie gefunden. High-End-Produkte, Qualität, individualisierte Dienstleistungen und Nachhaltigkeit statt Öko-Image und vermeintlich beschädigter B-Ware. Auf diese Weise wurde ein kultureller Wandel eingeleitet, der Nachhaltigkeit und Zirkularität als die neuen Spielregeln des Sektors definiert. Jetzt, wo Resale ohnehin auf dem Radar ist und die Krise finanzielle Möglichkeiten begrenzt, könnten auch Marken dazu ermutigt werden, derartige Business Models selbst zu übernehmen.

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Source & Copyright by Vestiaire Collective

Marken ohne zirkuläre Geschäftsmodelle verpassen die Möglichkeit sowohl den Umsatz als auch die positiven Resonanzen der Verbraucher:innen, die mit nachhaltigen Initiativen einhergehen, zu erhalten. So können die Einführung von Resale und Rental, aber auch von Reparatur-Services oder Take-Back-Schemes zukunftsrelevante Gewinne - monetär und ideell - für ihre Krisenresilienz bedeuten.

Übrigens geht es dabei nicht nur um Modelle, die Produkte am Ende ihres Lebenszyklus und somit das Ende ihrer Wertschöpfungsketten betreffen. Beispielsweise hat LVMH mit Nona Source ein kreislauffähiges Repurpose-Modell lanciert, das unverarbeiteten Deadstock des Maisons  zu wettbewerbsfähigen Preisen anbietet. So werden Nachhaltigkeit und erschwingliche Preispunkte vereint, sodass aufstrebende Designer:innen oder Marken trotz Krise mit hochwertigen Materialien arbeiten können.

Revival des Buzzthemas Konsumverzicht - Implikationen für die Inflation

Allgemein kann das Schrumpfen von finanziellen Spielräumen auch dazu führen, dass die Gesellschaft sensibilisiert wird. Dafür sensibilisiert, dass sie lange übermäßig sowie unbedacht konsumiert hat. Impuls-Shopping, Mikrotrend-Orientierung, Wegwerfmentalität und Fast-Fashion sind nicht mehr kompatibel mit der aktuellen Situation. Verbraucher:innen stellen höhere Ansprüche an die Langlebigkeit, Zeitlosigkeit und Qualität der Produkte, die sie erwerben.

Diese Entwicklung erinnert an ein Buzzword, dass schon vor der Pandemie Einzug in den nachhaltigen Diskurs gehalten hat: Konsumverzicht. Damals stütze sich der Ansatz allerdings auf eine gesunde Wirtschaft. Um genauer zu sein, auf eine Gesellschaft des Überflusses. Heute geht es um mehr, als das Treffen einer bewussteren Wahl. Es geht auch darum, erreichbare sowie zugängliche Alternativen zu identifizieren und Produkteigenschaften wie Longävität zu priorisieren.

Im Best Case kann dieses neue Mindset Druck auf die Modeindustrie ausüben, anders zu produzieren - zu analysieren, was die Menschen wirklich wollen und brauchen. Das könnte zu einer Verlangsamung der Produktion von Fast Fashion und einer Reduktion des Abfalls sowie der Umweltbelastungen führen.

What's next: Nachhaltige Alternativen statt nachhaltiger Bremse

Genauso sicher, wie die Unsicherheiten, die durch die Inflation entstehen: Die Sicherheit, dass sie nicht zwingend einen Rückgang des nachhaltigen Konsums bedeuten muss. Zirkuläre Modelle und der steigende Druck auf Unternehmen weisen darauf hin, dass Nachhaltigkeit auch zu einem erschwinglichen Preispunkt angeboten werden kann. Und muss.

Es gilt jetzt mehr Bewusstsein für Alternativen zu konventionellen Produkten sowie etablierten Kaufverhalten zu schaffen. Diese Entwicklung kann insbesondere von den Industrien durch neue Angebote und angepasste Preispolitiken gefördert werden. Letztlich können auf diese Weise sowohl Unternehmen als auch die Gesellschaft ihre Widerstandsfähigkeit während der Krise stärken. Ohne Nachhaltigkeit hinten anzustellen oder gänzlich auf sie zu verzichten.

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